Wir hatten einen Traum (Die Zeit 31.12.2003)

Der Sozialismus geht seiner Vollendung entgegen

Es war Sommer  im Jahre 1970,  als die »Junge Welt« ihre Leser aufrief, sich  ein Bild von der Zukunft zu machen.  »Was tust du am Donnerstag, dem 6. Januar 2000?«, fragte die Tageszeitung der  Freien Deutschen Jugend die DDR-Bürger. Zurück kamen Antworten postsackweise, manche Dopingfantasien, viele Architekturutopien, dazu eine beinahe unerschütterliche Technikgläubigkeit: Die Menschen in den  Trabantenstädten werden morgens mit Weckgas geweckt, Flugzeuge mit Atomkraft betrieben, der Sozialismus hat die Sahara begrünt – und die Bundesrepublik ist längst glücklich-kommunistisch. Ganz frei war die deutsche Jugend in ihren Fantasien, von denen wir hier einige abdrucken, selbstverständlich nicht. »Ist es eigentlich etwas Besonderes, wenn unsere Preisausschreibenteilnehmer zum Ausdruck bringen, dass sie sich unsere Zukunft  ausschließlich in der weiteren Entwicklung  der sozialistischen Gesellschaft vorstellen können?«, fragte in seiner Bilanz  ein »Junge Welt«- Redakteur. Er gab die Antwort gleich mit: »Sicher nicht.«

»Wenn ich ehrlich sein soll, ich habe mich noch immer nicht ganz an die neue vereinfachte Rechtschreibung gewöhnt, obwohl sie den Kindern viel Kopfzerbrechen und den Lehrern massenhaft rote Tinte erspart. Die Reform der deutschen Rechtschreibung war nach der Einigung der beiden deutschen Staaten zur Sozialistischen Deutschen Republik eingeführt worden.« Industriekauffrau, 25 Jahre, Treuen

»Kein Insekt stört uns. Seit 1992 sind alle Insekten ausgerottet.« Schülerin, 14 Jahre, Görlitz

»Ein kurzer Blick in den Spiegel, um zu sehen, ob die Farbtablette, die ich am Abend eingenommen hatte, wirkt. Sie dient dazu, dass die Frauen am Morgen die gewünschte, zu ihrem Anzug passende Haarfarbe erhalten.« Schülerin, 15 Jahre, Dessau

»In Sellin herrscht auch im Winter Hochsommerklima, und die Ostsee wird mit Infrarotstrahlern beheizt.« Rentner, Jena

»Das Brot wird in den Apparat gelegt, der Knopf gedrückt, und eine halbe Minute später kommt die Infragetoastete Scheibe heraus. Schmieren muss man sich die Stullen selbst, genau wie 1970. Auch einkaufen geht kein Roboter. Aber heute geht es schneller. Jeder Bezirk hat eine Kaufhalle für den täglichen Bedarf. Das Neue daran ist das Bezahlen. Mit den Waren wird ein Scheck eingegeben in die Kasse. Diese berechnet den Preis, vermerkt ihn auf dem Scheck, speichert diesen und gibt die Waren aus. Das alles vollzieht sich in Sekundenschnelle. Am Monatsende wird der Scheck einer Bank zugestellt, die die Summe von den Ersparnissen oder direkt vom Lohn abzieht.« Schüler, 17 Jahre, Babelsberg

»Bei schlechtem Wetter spiele ich mit meinem Roboter ›Dame, Halma, Mühle‹ oder Schach. Meistens gewinnt der Roboter, weil er mit Beschiss spielt.« Schüler, 11 Jahre, Borna/Nord

»In der Pause lese ich mithilfe der Fernübertragungsanlage Zeitung. Ich lese über die Revolution in Frankreich unter Führung der FKP.« Student, 17 Jahre, Hohen Neuendorf

»Als mich am Morgen mein Fontelevideon mit einer italienischen Volksweise weckte, dachte ich sofort an die bevorstehende Konferenz der Kunstwissenschaftler, die in Rom stattfinden soll. Die atombetriebene SL 200 flog erst in drei Stunden, sodass ich noch Zeit für meinen morgendlichen Ritt hatte. Keine halbe Stunde dauerte es, bis unsere Maschine im sonnigen Rom landete. (…) Seit der volksdemokratischen Revolution wird ja jährlich eine deutsch-italienische Freundschaftswoche durchgeführt. Nun, zum zehnjährigen Jubiläum, wurden wir besonders herzlich empfangen.« Schülerin, 18 Jahre, Halle

»Um 13.00 Uhr MEZ gehe ich essen, es gibt mariniertes Plankton.« Schüler, 14 Jahre, Magdeburg

»Ich bin Fregattenkapitän der Internationalen Volksmarine und Erster Offizier des Atom-U-Bootes ›Karl Marx‹.« Schüler, 18 Jahre, Meiningen

»Das Denken ist auch im Jahre 2000 nicht abgeschafft und wird es auch nie. (…) So ist es auch bei mir. Der Journalistenberuf erfordert nach wie vor ständige Auseinandersetzung mit dem Imperialismus, der immer mehr an Macht und Einfluss verliert. Viele Dinge nehmen mir aber die Automaten ab. So kann ich Informationen speichern und brauche sie nicht aufzuschreiben. Auch der Selbstwahlverkehr mit allen Hauptstädten des sozialistischen Lagers klappt prima. Der Sozialismus in der DDR geht seiner Vollendung entgegen. Die Menschengemeinschaft fügt sich immer fester zusammen. Das spüre ich auch in meinem Arbeitskollektiv. Heute, am Donnerstag, dem letzten Arbeitstag der Woche, wollen wir gemeinsam eine Weiterbildungsveranstaltung besuchen. Das Weiterbilden in der Freizeit ist mir zum Hobby geworden.« Schüler, 17 Jahre, Riesa

»Nach dem Essen können wir uns unserem Haustier widmen. Es ist ein Delfin.« Schülerin, 14 Jahre, Dresden

»Vor rund einem Jahrzehnt haben wir in der Bundesrepublik die sozialistische Umgestaltung durchgeführt. Wir sind heute so weit, dass wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln die Entwicklung des sozialistischen Bewusstseins der Bevölkerung vorwärtstreiben können. Neun Zehntel der Welt sind sozialistisch.« Ersatzdienstleistender, Dortmund

»Ich wohne in einem Wolkenkratzer, 35 Stockwerke hoch. Es macht mir immer Spaß, wenn ich einmal die großen Wolken unter mir habe und mir dann vorstelle, dass die Menschen mit ihren Regenschirmen die Straße hinuntereilen. Dort unten regnet es. Bei mir scheint die Sonne. Daran denke ich, während ich mit dem Fahrstuhl hochfahre. Ich lege meine Hand an die erleuchtete Scheibe meiner Wohnungstür, und die Tür öffnet sich. Solche Türen gibt es im ganzen Haus. Ein Computer registriert die Fingerabdrücke, und die elektronische Tür öffnet sich nur dann, wenn es die meiner Frau, meiner Kinder oder die meinen sind.« Schüler, 14 Jahre, Schiergiswalde

»Dynamo Dresden hatte im Messecup gegen Manchester City mit 2:1 gewonnen.« Schüler, 16 Jahre, Dresden

»Aus meinem elektronischen Tagebuch EXC (6. Januar 2000): ›Gewöhnlicher Tag! Fünf Stunden Unterricht, dabei Geschichte in der 6b. Thema: ›Antifaschistische Revolution in der DDR‹. Habe bei der Vorbereitung auf meinen Unterricht mal wieder in der achtbändigen Ausgabe der ›Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung‹ geblättert. Kann mich immer noch nicht davon trennen, obwohl mir Uli, meine Frau, ständig nachweist, dass die Minibücher, die mit der Schriftlauflupe gelesen werden, viel, viel praktischer sind. Ich hänge nun mal an den ›Schätzen‹ aus meiner Jugendzeit! (…)Mittags: wie immer Essen aus der Schulautomatengaststätte. Endlich ist es möglich, ein Menü selbst zusammenzustellen, natürlich kostenlos. Habe schon fast vergessen, dass ich vor zehn Jahren nur zwischen fünf Essen wählen konnte. (…) Uli will unbedingt nächste Woche einmal wieder selbst kochen. Warum nicht, wenn es ihr Spaß macht. (…) Heute Abend gehe ich mit Uli ins Theater. Manfred Krug spielt in der Titelrolle von ›Nathan der Weise‹. Von der entsprechenden Fernsehsendung auf dem vierten Programm muss mir Mischa, unser Zehnjähriger, unbedingt eine Aufzeichnung machen. (…) Schade, muss den Besuch bei Andrej und Lena in Leningrad für Sonntag absagen. Vielleicht schaffe ich das Video-Telefongespräch noch vor dem Theater. Egal, fliegen wir nächstes Wochenende hin, 50 Minuten sind ja keine Zeit. Andrej wollte uns ja sogar mit dem Raketopress noch an den Baikal zum Eissegeln einladen. Aber Uli möchte einmal wieder in die Eremitage.« Schüler, 16 Jahre, Berlin

»Die Einwohner der Trabantenstadt sind durch Weckgas sanft geweckt worden.« Hauer, 23 Jahre, Pirna

»Auf der Erde gibt es nur noch sozialistische Länder, und Europa hat sich zu einer Unionsrepublik zusammengeschlossen. Wir schalten unseren Farbfernseher ein und sehen uns die Nachrichten für Berlin an.« Schülerin, 13 Jahre, Brandenburg

»Wohin ich auch sehe, nicht nur in der Wissenschaft, Technik und in der gesellschaftlichen Entwicklung hat es Fortschritte gegeben, auch die Menschen sind anders geworden, freundlicher, zuvorkommender. Keiner fühlt sich mehr über den anderen erhaben. Der Omnibusfahrer ist ein genauso geachteter Mensch wie der Hochschulprofessor. Ich sehe, wie sich ein Bauer von einer der vielen Großraumwirtschaften mit einem Fachwissenschaftler über die komplexe Anwendung neuartiger Erntemaschinen unterhält. Das ist für beide ein Alltagsgespräch, das einfach dazugehört. Denn schon lange gibt es kein Kulturgefälle mehr zwischen Stadt und Land, sind die Unterschiede verschwunden.« Soldat, Stahnsdorf

»Die erste Ernte in der Sahara hatte alle Erwartungen übertroffen.« Schüler, 15 Jahre, Sonneborn